Wie könnte eine Wende in der Gewerkschaftsarbeit aussehen?

Diskussionspapier der Gewerkschaftshochschule "Fritz Heckert"

Die in unserem Land zu vollziehende Wende ist nur mit freien, starken, eigenständigen Gewerkschaften möglich. Diese Eigenständigkeit ist im Sinne des Verfassungsgrundsatzes: "Die Gewerkschaften sind unabhängig. Niemand darf sie in ihrer Tätigkeit einschränken oder behindern", herzustellen. Die Gewerkschaften sind historisch gewachsene Interessenvertreter der Arbeiter, Angestellten und Angehörigen der Intelligenz und bleiben dies auch Im Sozialismus. Deshalb müssen wir Schluss machen mit dein rapiden Autoritätsverfall dieser bedeutenden Massenorganisation der Werktätigen. Es geht um die Rettung und Bewahrung der Einheitsgewerkschaften als wirkliche Interessenvertreter der Werktätigen und als fundamentale Errungenschaft des antifaschistischen Kampfes.

I. Aktuelle Erfordernisse

Eigenständigkeit und innergewerkschaftliche Demokratie

Die Sicherung der Eigenständigkeit verlangt eine neue Qualität der innergewerkschaftlichen Demokratie. Es geht um eine schnelle und tiefgreifende Demokratisierung des Leitungs- und Entscheidungsprozesses auf allen Ebenen mit dem Ziel, die Wirksamkeit der Grundorganisationen zu erhöhen, größere Sachkunde, mehr Autorität und engere Beziehung zur realen Interessenlage der Werktätigen herzustellen. Das erfordert auch die Erweiterung der Rechte der IG/Gewerkschaften, insbesondere in der Tarif-und Sozialpolitik.

Zum Frühjahr 1990 ist ein außerordentlicher Kongress des FDGB einzuberufen, zu dessen Vorbereitung Arbeitsgruppen zu bilden sind. Tagesordnung des Kongresses sollte sein: gewerkschaftliches Sofortprogramm, Entwurf einer gewerkschaftlichen Strategie 2000, Satzungsänderung, Wahl des Bundesvorstandes.

In der Gewerkschaftsarbeit müssen solche demokratischen Prinzipien wiederhergestellt werden wie schriftliche Rechenschaftslegung (Geschäftsbericht, Kassenbericht). Zulassung und Bearbeitung von Anträgen aller Art, sachbezogene Beratungen in den gewählten Gremien. Die ungerechtfertigte Zentralisation ist zu überwinden, und das Kompetenzprinzip ist durchzusetzen. Das bedeutet, den Organen der Industriegewerkschaften/Gewerkschaften und der Bezirks- und Kreisvorstände größere Entscheidungsbefugnisse einzuräumen.

Eine uneingeschränkte und wirksame Informations- und Öffentlichkeitsarbeit aller gewählten Organe und des Apparates ist zu gewährleisten. Das Berichtsunwesen ist rigoros zu beseitigen.

Die Wahl der Gewerkschaftsfunktionäre aller Ebenen ist künftig nach dem Befähigungs- und Vertrauensprinzip in voller Eigenverantwortung vorzubereiten und durchzuführen.

Die gewählten Vorstände sind regelmäßig und entsprechend den aktuell politischen Erfordernissen einzuberufen.

Entsprechend den Veränderungen in der Volkswirtschaft und in der Struktur der Mitgliedschaft ist die Organisations- und Leitungsstruktur des FDGB, seiner Industriegewerkschaften/Gewerkschaften zu überprüfen.

Das gewerkschaftliche Schulungssystem ist mit dem Ziel neu zu gestalten, eine ausreichende Anzahl ehren- und hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionäre für eine politisch und sachlich kompetente Interessenvertretung auszubilden.

Sicherung der Eigenständigkeit der Gewerkschaften

Die Gewerkschaften nehmen künftig ihre verfassungsmäßig garantierten Rechte in den Volksvertretungen aller Ebenen selbständig wahr. Dazu nutzen sie das Recht auf Gesetzesinitiative, aktivieren sie die Tätigkeit ihrer Fraktion und der Abgeordnetengruppen des FDGB. Sie sichern die Rechenschaftslegung ihrer Mandatsträger vor den Wählern. Die Gewerkschaften benötigen selbständige Untersuchungen und Analysen für die Ausarbeitung eigener Standpunkte zu allen die Interessenvertretung berührenden Fragen. Dazu nutzen sie eigene und andere wissenschaftliche Einrichtungen und Informationsquellen.

Die Eigenständigkeit bedarf der Öffentlichkeit. Dazu ist eine neue Konzeption für die gewerkschaftliche Pressearbeit nötig.

Die Gewerkschaften fordern, dass ihnen rechtzeitig Einblick gewährt wird in die Entscheidungsvorbereitungen der Staatsorgane auf wirtschaftspolitischem; sozial-politischem, rechtspolitischem, kulturpolitischem und bildungspolitischem Gebiet. Das muss das Recht auf Unterbreitung von Vorschlägen für Rechtsvorschriften und auf Kontrolle über die Durchführung getroffener Entscheidungen einschließen.

Notwendig sind gesetzliche Regelungen für gewerkschaftliche und staatliche Organe im Konfliktfall (einschließlich Arbeitsniederlegung). Der Schutz der Gewerkschaftsfunktionäre vor ungerechtfertigten Kritiken und Maßregelungen sowie die notwendige Freistellung für Gewerkschaftsarbeit sind zu gewährleisten.

Diese und weitere Rechte sollten in einem Gewerkschaftsgesetz fixiert werden.

II. Grundsatzüberlegungen

Grundlagen der Eigenständigkeit der Gewerkschaften

1. Als politische Organisation der Werktätigen gehen die Gewerkschaften künftig konsequent von den individuellen und kollektiven Interessen ihrer Mitglieder aus. Sie ermitteln, vertreten und schützen diese Interessen und setzen sie durch. Auftrag der Gewerkschaften ist die Interessenvertretung von unten als Grundpfeiler sozialistischer Demokratie. Dabei lässt sich der FDGB von den sozialen Werten und Idealen des wissenschaftlichen Sozialismus, von den demokratischen Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung und den humanistischen Werten christlicher Ethik und Moral leiten. Von diesen sozialen Werten und Idealen ausgehend, beeinflussen die Gewerkschaften das Bewusstsein und die Interessen ihrer Mitglieder.

2. Die Gewerkschaften stehen auf dem Boden des gesellschaftlichen Eigentums. Sie nehmen ihre Rechte und Pflichten auf dieser Grundlage wahr und sichern so den demokratischen Charakter des sozialistischen Eigentums in Gesellschaft und Betrieb. Das er fordert vor allem, dass der FDGB, seine Industriegewerkschaften/Gewerkschaften konsequent und unnachgiebig die Teilnahme der Werktätigen und ihrer Kollektive an der Leitung, Planung und Organisation der Produktion, der Arbeit sowie der Arbeits- und Lebensbedingungen durchsetzen.

3. Die Gewerkschaften in der DDR sind in ihren Beschlüssen, Forderungen, Verfahrenweisen an nichts anderes gebunden, als an die Verfassung, an die Rechtsvorschriften und an ihre Satzung. Sie bestimmen ihre Ziele und Aufgaben selbst, stellen von ihnen erkannte Probleme zur Diskussion und Entscheidung und nehmen an der Erörterung aller gesellschaftlichen Angelegenheiten teil. Die Gewerkschaften bieten unverzichtbare Möglichkeiten für einen demokratischen Willensbildungsprozess in unserer Gesellschaft. Sie sind nur ihren Mitgliedern rechenschaftspflichtig. Die Gewerkschaften fühlen sich eng mit der Partei der Arbeiterklasse verbunden. Sie wirken bei der Erfüllung ihrer Aufgaben mit allen politischen Parteien u. a. gesellschaftlichen Organisationen zusammen.

Inhalte der Eigenständigkeit der Gewerkschaften

1. Die Ökonomischen Interessen der Werktätigen und ihrer Kollektive in den Betrieben und Arbeitsstätten. Das sind die Interessen der Arbeiter, Angestellten und Angehörigen der Intelligenz an der Sicherung aller gesamtwirtschaftlichen und betrieblichen Bedingungen für produktive, ökonomisch ergiebige Arbeit für alle. Das ist das Interesse an stabilem, bedürfnisorientiertem Wirtschaftswachstum mit konkurrenzfähigen und ökologisch verträglichen Technologien und Erzeugnissen, an langfristig sicheren wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Konzeptionen ihrer Betriebe und der Volkswirtschaft. Die Gewerkschaften nehmen diese ökonomischen Interessen vor allem im Betrieb wahr. Sie sichern auf der Grundlage eigener Standpunkte den Einfluss der Werktätigen und ihrer Kollektive auf die Bestimmung der ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Ziele (Plan), auf die Bestimmung der effektivsten Wege zur Realisierung dieser Ziele (Leitung und Organisation) sowie auf die Offenlegung und Kontrolle der dabei erreichten Ergebnisse. Dafür nutzen sie vorhandene und schaffen sie neue politische Mittel und Instrumentarien.

2. Die sozialen Interessen der Werktätigen und ihrer Kollektive. Das ist vor allem das Interesse an sozialer Sicherheit, an der Gewährleistung sozialen Fortschritts und individueller Entfaltungsmöglichkeiten für jeden auf der Grundlage des Leistungsprinzips. Die Gewerkschaften beanspruchen einen bestimmenden Einfluss auf eine leistungsorientierte und leistungsgerechte Lohn- und Gehaltspolitik, auf Arbeitsnormung und Leistungsbewertung. Sie verlangen für die ständige Verbesserung der Organisation und der Bedingungen der Arbeit in allen Betrieben eine funktionsfähige wissenschaftliche Arbeitsorganisation. Im Zusammenwirken mit den Werktätigen sind die Arbeitsbedingungen zu analysieren und alle Möglichkeiten zu ihrer Ausgestaltung zu nutzen.

Dabei streben sie an, alle Möglichkeiten der Selbstgestaltung von Normung, Leistungsbewertung und materieller Anerkennung durch die Arbeitskollektive im Rahmen tarifpolitisch mit den Gewerkschaften geregelter Bedingungen auszuschöpfen.

Die Gewerkschaften bestehen auf der Erarbeitung und Anwendung eines rechtlich verbindlichen Sozialprojektes für Investitions- und Rationalisierungsvorhaben. Über dieses Sozialprojekt üben sie ihren Einfluss aus auf die Sicherung sozial-progressiver Wirkungen der neuen Technologien hinsichtlich der Arbeits- und Lebensbedingungen, der Arbeitsinhalte, der Arbeitsorganisation, der Entlohnung und der Qualifizierung. Das Sozialprojekt ist eine der wichtigsten Grundlagen für die organisierte rechtzeitige Einbeziehung der Werktätigen in die Vorbereitung, die Überführung und die Anwendung der neuen Technologien.

Ein wesentliches Instrument zur Sicherung der Einheit von ökonomischen und sozialen Interessen der Werktätigen und zur Regulierung der Beziehungen zwischen BGO und staatlichem Leiter muss der Betriebskollektivvertrag werden.

3. Die politischen Interessen der Werktätigen und ihrer Arbeitskollektive. Das ist das Interesse an offener, ehrlicher und allseitiger Information zu den Tatsachen, Zusammenhängen, Erfordernissen und Entwicklungsprozessen der Arbeit und des Lebens in Betrieb und Gesellschaft. Das ist das Interesse an aktiver Mitgestaltung der demokratischen Grundlagen des Sozialismus, an einer politischen Kultur, die auf dem Recht und der Pflicht zu freier, kritischer und selbstkritischer Meinungsäußerung beruht. Die Wahrung dieser politischen Rechte und Pflichten muss von den Gewerkschaftsleitungen konsequent organisiert, vertreten und geschützt werden. Nur dann leisten die Gewerkschaften ihren eigenständigen Beitrag zur Demokratie, zum Frieden und zur Solidarität.

4.Die geistig-kulturellen Interessen und Bedürfnisse der Werktätigen und ihrer Kollektive. Das sind vor allem die Interessen der Menschen an der Herstellung persönlichkeitsfördernder Beziehungen zwischen Arbeit, Leben und Kultur. Auf sie muss sich gewerkschaftliche Kulturpolitik und -arbeit stärker orientieren. Zu überwinden sind belehrend-erzieherische kulturpolitische Praktiken in der Gewerkschaftsarbeit.

Der Anspruch an eine menschenfreundliche Gestaltung von Arbeit und Arbeitsumwelt bis zu Betriebs- und Produktionsgestaltung nach ästhetischen Bedürfnissen muss einen größeren Stellenwert in der Kulturarbeit der Gewerkschaften gewinnen.

Eigene Standpunkte und Konzeptionen zur Gewährleistung einer rechtzeitigen aufgabenbezogenen Bildung und Qualifizierung müssen erarbeitet und vertreten werden. Die Gewerkschaften setzen sich in den Territorien entschiedener ein für die Entwicklung attraktiver Kulturangebote in der Freizeit und für die Förderung von Talenten auf wissenschaftlich-technischen und kulturell-künstlerischem Gebiet. Die gewerkschaftlichen Kultureinrichtungen (Kulturhäuser, Klubs Bibliotheken) sollten stärker als Stätten politischer und geistiger Begegnungen und Gespräche genutzt werden. Eine demokratisch. erneuerte Gesellschaft braucht den engen Kontakt von Arbeit und Kunst, von Arbeitern und Künstlern.

Diese Positionen stellen wir zur Diskussion. Sie können und müssen verbessert, entwickelt, präzisiert werden. Es geht um eine den drängenden Erfordernissen unserer Zeit entsprechende und für die Zukunft unseres sozialistischen Landes und unserer freien Gewerkschaften tragfähige Gewerkschaftskonzeption.

Bernau, den 29. 10. 89

Prof. Dr. H. Schneider, Mitglied des Bundesvorstandes; Prof. Dr. E. Geier; Dr. S. Langhein, Mitglied des Bundesvorstandes; Prof. Dr. H. Deutschland; Prof. Dr. S. Frister; Prof. Dr. D. Müller; Prof. Dr. H. Eberlein; Dr. R. Meißner; Prof. Dr. K. Schießl; Dr. J. Lautenbach; Prof. Dr. G. Schmunk; Prof. Dr. W. Hantsche; Prof. Dr. H. Dernmler, Dr. E. Fröhlich; Prof. Dr. J. Kunze; H. Strobel; R. Rank; Dr. J. Prang; E. Hofmann; Dr. K. Köpke ; Dr. F. Langner; Prof. Dr. M. Berger; Prof. Dr. A. Förster; Prof. Dr. M. Bischoff; Dr. V. Kurzweg; H. Galenza.

Tribüne, Nr. 215, Mi. 01.11.1989

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